Jetzt Bildungshürden aus dem Weg räumen
Die Corona-Pandemie hat wie ein Brennglas die Schwächen im Bildungssystem aufgezeigt. Ein Plädoyer für eine bessere Verteilung der Bildungschancen.
Erinnern Sie sich noch daran, als Sie in ihrer Schulzeit gefragt wurden, was sie beruflich später machen wollen? „Ich geh AMS“ – diese Antwort habe ich in Neuen Mittelschulen in Wien bekommen. Nicht einmal, sondern beinahe bei jedem meiner Schulbesuche in Brennpunktschulen wurde „AMS“ als Berufswunsch genannt. Nach der Stunde fragte ich die Lehrerin, ob mich einige Schüler damit auf den Arm nehmen wollten. Sie klärte mich auf, dass Eltern oder größere Geschwister teilweise arbeitslos sind und daher AMS tatsächlich ein ernst gemeinter Berufswunsch sei.
Der Herkunftseffekt
Die soziale Bildungsschere war schon vor Corona groß. Durch die Schulschließungen und die Sommerferien ist sie nun noch größer. Wenn es für eine fünfköpfige Familie nur einen einzigen Laptop gibt und Eltern um ihre wirtschaftliche Existenz bangen, wie soll Lernen funktionieren und damit verbundene Bildungschancen entstehen? Hinzu kommt eine jahrzehntelange systemimmanente Geburten- und Bildungslotterie, die Aufstiegsmöglichkeiten strukturell verunmöglicht. Wir wissen, dass Zehnjährige aus bildungsnahen Elternhäusern gegenüber bildungsfernen einen bis zu 2,5-jährigen Leistungsvorsprung haben. Bedingt durch ungleiche Startbedingungen, die das öffentliche Bildungssystem nicht auszugleichen schafft.
Soziale Herkunft und der Zufall, ob ich im September einen engagierten Lehrer bekomme, entscheiden in Österreich, ob ich später am Job- oder Heiratsmarkt unterkomme. Kein Faktor korreliert so stark mit Jobchancen wie Bildung. 33 zu vier: Das ist die Arbeitslosenquote in Wien unter Personen, die maximal einen Pflichtschulabschluss haben im Vergleich zu Akademikern. Neben fast 425.000 gemeldeten Arbeitslosen österreichweit sind aktuell noch über 450.000 Arbeitende in Kurzarbeit. Die Entscheidung darüber, wer in den nächsten Monaten den Job behält, wird nach dem Arbeitsmarktprinzip „Last in, first out“, dem Bildungsstand und der Sozialkapitalausstattung erfolgen. Für junge Menschen mit wenig Bildung und wenigen Netzwerken sind das düstere Aussichten.
Bildung ist der Schlüssel für die Zukunft, die Startrampe, um im Leben auf eigenen Beinen zu stehen und sich als Bürger für die Gemeinschaft einzubringen. Doch schaffen wir es als Gesellschaft, allen Kindern ausreichend faire Bildungschancen zu ermöglichen? Was es braucht, ist Innovation im Bildungssystem. Innerhalb und außerhalb der Schule. Mit Gespür für die echten Lebensrealitäten und die unentdeckten Talente von Kindern.
Corona hat Schule und Lernen kräftig aufgemischt und wie ein Brennglas Schwachstellen sichtbar gemacht. Die Bildungsforscherinnen Klopsch und Sliwka plädieren für eine „Neue Grammatik der Schule“. Weg vom Fabrikmodell Bildung, hin zu mehr Kommunikation der Lehrkräfte untereinander, gemeinsamer Gestaltung des Lernvorhabens mit Schülern und zur aktiven Einbeziehung der digitalen und realen Welt außerhalb der Schule.
Leidensdruck für Veränderung
Die Koppelung von Innovation mit fairen Bildungschancen wird zur Weichenstellung der jungen und künftigen Generation. Der wirkliche Leidensdruck für Veränderungen ist mit Blick auf die Fakten in Brennpunktschulen am größten. Dort entscheidet sich auch die Perspektive der aktuell Perspektivlosen. Deshalb braucht es die besten Schulen und Lehrer in den schwierigsten Gegenden. So viel Bewerberinteresse für den Lehrberuf wie bei Medizin oder Lehramt in Finnland. Nämlich zehnmal so viel wie in Österreich. Eine Innovationswelle, die Schule und Lernen ins 21. Jahrhundert holt: Das sollten wir zum Schulstart ganz oben auf die Agenda setzen. Damit „AMS“ als wichtige soziale Stütze wahrgenommen wird, aber nicht als Zukunftswunsch einer Generation.
Dieser Beitrag ist als Gastkommentar im Standard am 5. September 2020 erschienen.